Fachkräftemangel

22.09.2022

Das Thema Fachkräftemangel ist aktuell in aller Munde und wird in Unternehmen und Medien diskutiert. Es zeichnet sich ab, dass sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen wird.

 
 
Fachkräftemangel
 
 

Chefsache Fachkräftemangel

Schlagworte in der öffentlichen Diskussion haben die Eigenschaft, dass sie sich abnutzen. Zuerst findet ein Begriff Aufmerksamkeit, weil er neu ist oder einen neuen Sachverhalt beschreibt. Im Lauf der Zeit gewöhnt man sich an ihn. Der Begriff verliert seinen Schrecken. So ist es auch mit dem Begriff „Fachkräftemangel“.

Wenn man heute über fehlende Fachkräfte spricht, hört man in der Regel: „Ja, dieses Problem kenne ich“. Nein – Sie kennen es nicht! Was wir heute erleben, ist ein erster Vorgeschmack auf die Zustände in 5, in 10 oder in 15 Jahren.

Beispiel Baden-Württemberg: Im Jahr 2030 werden in diesem Bundesland rund 550.000 Fachkräfte fehlen (Quelle Fachkräftemonitor der IHK Baden-Württemberg). Der Arbeitsmarkt umfasst in diesem Bundesland 4,7 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Mit anderen Worten: Jeder 9. Arbeitsplatz wird im Südwesten nicht besetzt sein. Dabei dürften die Auswirkungen unterschiedlich spürbar werden. In weniger attraktiven Branchen und an weniger attraktiven Standorten wird es wohl zu gravierenden Engpässen kommen.

Für die BGH-Consulting stehen drei Akteure im Fokus: Die Politik, die Rahmenbedingungen schaffen muss, um den Fachkräftemangel effektiv zu bekämpfen. Zweitens die Unternehmen, die sich am Arbeitsmarkt neu aufstellen müssen und drittens wir selbst, damit wir die Beratungsleistungen anbieten, die gebraucht werden.

Im ersten Teil haben wir für die politische Diskussion wichtige Argumente zusammengetragen, die jeder Unternehmer kennen sollte.

Wohnungsbau:
In Deutschland fehlen aktuell 450.000 Wohnungen, insbesondere in den Ballungsgebieten. Dies erschwert die Suche nach Mitarbeitern immens. In den Kommunen muss deshalb mehr Wohnungsbau initiiert werden. Bisher gibt es nur wenige Unternehmen, die selbst für ihre Mitarbeiter Wohnraum anbieten können. Beispiel München: Hier leben rund 8.000 aktive und pensionierte Mitarbeiter in städtischen Wohnungen. „Mitarbeiterwohnen“ ist so zum Instrument moderner Personalpolitik geworden.

Demografie: Babyboomer werden Rentner
Schauen wir die Zahlen genauer an: Die Jahrgänge 1960 bis 1968 gelten als die Generation der „Babyboomer“. Diese Jahrgänge sind heute zwischen 54 und 62 Jahre alt, sie gehen in den nächsten Jahren in Rente. Im Jahr 1964 zum Beispiel kamen in Deutschland 1,36 Millionen Kinder auf die Welt. Andererseits wurden im Jahr 2004 bei uns nur rund 700.000 Kinder geboren. Vereinfacht bedeutet das: zwei Arbeitskräfte scheiden aus, aber nur eine tritt in den Arbeitsmarkt ein.

Kinder- und Seniorenbetreuung: Fachpersonal besser bezahlen
Eine Vielzahl von gut ausgebildeten und erfahrenen Arbeitskräften wird von fehlenden Kinderbetreuungsplätzen ausgebremst. Das gilt im Übrigen auch für die Betreuung der Senioren. Es fehlen Kita-Plätze, und wenn solche vorhanden sind, können sie nicht belegt werden, da auch hier Fachpersonal fehlt. Die Berufe in der Pflege und Betreuung leiden unter einem krassen Missverhältnis zwischen fachlichen Anforderungen und der Bezahlung. Hier muss eingegriffen werden, oder möchte jemand mit seinem kranken Angehörigen ins Krankenhaus gehen, um ihn zu füttern und zu waschen?

Es wird also auch darauf ankommen, dass sich die Politik daran macht, Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Heute schon können gut ausgebildete Mütter (und zunehmend Väter) nicht in dem Maß arbeiten, wie sie es wollen. Grund hierfür: Die Kinderbetreuung passt nicht. Ihr weiterer Ausbau liegt also auch im Interesse der Wirtschaft.

Steuersystem: Leistung muss sich wieder lohnen
Eine besonders komplexe Thematik ist das Steuersystem. Es demotiviert die Mehrarbeit. Die Progression in der Einkommenssteuer führt dazu, dass von jedem zusätzlich verdienten Euro mehr abgezogen wird. Beispiel: bei einem Monatsbruttolohn von 2.000 Euro werden in der Steuerklasse 4 laut Steuertabelle 28,2 Prozent an Steuern und Sozialabgaben fällig. Verdient man 3.000 Euro, steigt dieser Satz auf 33,7 Prozent an. Das heißt: Von den zusätzlich verdienten 1.000 Euro bleiben nur 552,40 Euro netto übrig.

„Nebenher“ arbeiten darf nicht länger bestraft werden. Wer zum Beispiel als Student in der Gastro jobbt, darf nur 452 Euro im Monat bzw. 5.422 Euro im Jahr verdienen, ohne dass das BAföG gekürzt wird. Ab 9.744 Euro Jahresbrutto (das sind 812 Euro im Monat) sind Steuern und Sozialabgaben fällig. Auch an diesem Punkt muss sich die Politik entscheiden: wollen wir mehr Steuern einnehmen oder wollen wir, dass mehr gearbeitet wird?

Arbeiten: Wochenarbeitszeit und Renteneintrittsalter neu denken
Es geht nicht nur um die Frage, wann wir in die Rente gehen, sondern um das Arbeitsvolumen, das ein Mitarbeiter insgesamt in unser Wirtschaftssystem einbringen kann. Es geht also um die Zeit vom Eintritt ins Berufsleben bis zum Austritt, aber auch um das Arbeitsvolumen pro Woche. Jahrzehntelang hat unsere Gesellschaft die Illusion gepflegt, wir könnten immer früher in den Ruhestand gehen. Umso schwieriger war die Ausdehnung der Altersgrenze auf 67 Jahre. Für die Zukunft wird dies aber nicht ausreichen. Die Menschen bei uns müssen länger arbeiten, auch weil sie dringend auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden. Das könnten sie aber auch in der Woche tun. Wem nützt eine 35-Stunden-Woche, wenn die Produktion steht und dem Mitarbeiter das Geld für die aktive Nutzung der Freizeit fehlt?

Zuwanderung: ausländische Abschlüsse schneller anerkennen
Die Politik wird sehr wahrscheinlich versuchen, die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften zu forcieren. Dazu müssen Gesetze verändert und die Kriterien für die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs- und Studienabschlüssen vereinfacht werden. Außerdem brauchen die zuwandernden Arbeitskräfte Unterstützung beim Deutschlernen und sofern sie Familie haben, muss eine passende Kinderbetreuung vorhanden sein.

Berufsberatung: Jungen Menschen zur erfolgreichen Karriere verhelfen
Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen schließt die Schule mit dem Abitur oder der Hochschulreife ab. Von diesen jungen Menschen nehmen mehr als 75 Prozent anschließend ein Studium auf. Unser Arbeitsmarkt braucht Akademiker. Aber aus Sicht der Unternehmen studieren zu viele das Falsche. Vor allem für die Ingenieurberufe entscheiden sich immer weniger.

Unsere Unternehmen brauchen aber vor allem auch hoch qualifizierte Fachkräfte. Nicht mit Studienabschluss, sondern solche, die mit einer beruflichen Ausbildung die Grundlage für ihre Karriere gelegt haben. Dass das Studium nämlich nicht für alle der richtige Weg ist, zeigt die Abbrecherquote: Ein Drittel aller Studienanfänger in Deutschland bricht das Studium innerhalb der ersten fünf Semester ab.

Die Entscheidung über die Berufswahl wird maßgeblich durch das Elternhaus und die Schule gelenkt. In den Schulen werden die Schülerinnen und Schüler aber nach wie vor „Pro Studium“ beeinflusst. Für die meisten Eltern ist es Erziehungsziel, dass ihr Kind studiert. Dabei wird völlig übersehen, dass heute ein qualifizierter Handwerker oder Facharbeiter oft besser verdient als sein gleichaltriger früherer Klassenkamerad, der studiert hat.

Was können Sie als Unternehmer tun?
Gerade der unternehmerische Mittelstand ist von diesen Problemen betroffen und sollte jede Möglichkeit nutzen, die politisch Verantwortlichen anzusprechen und in die Pflicht zu nehmen. Ein paar freundliche Worte bei der Einweihung einer neuen Halle, zu der jeder Mandatsträger gerne kommt, sind einfach zu wenig.

Mit unserem nächsten Artikel werden wir die Frage aufwerfen, was ein Unternehmen realistisch gesehen gegen den Fachkräftemangel tun kann.


Joachim Frantzen
Geschäftsführer

Dr. Hans-Georg Rottenegger
Senior-Berater

HGR JF Fachkräftemangel